concrete poetry [serie 08|2020]

WENN DAS DER FÜHRER WÜSSTE

Ein Projekt, was schon lange auf meiner Liste stand, ist das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, ist es doch ein Paradebeispiel für die Aneignung des Raums zur ideologisch begründeten Steuerung willfähriger Massen. Er strahlt die Machtdifferenz zwischen Herrschenden und Beherrschten förmlich aus - und das auch noch heute, 75 Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft seiner Erbauer. Während die Sprengung des Hakenkreuzes auf dem Zeppelinfeld quasi zu einer Ikone der Beendigung der Terrorherrschaft wurde, ist der Umgang mit den Überresten nationalsozialistischen Größenwahns durch die Befreiten weit weniger eindeutig. Das es in den 1980er Jahre tatsächlich Pläne gab den Torso der Kongresshalle in ein Einkaufszentrum umzubauen, macht den zwiespältigen Umgang mit dem megalomanischen Erbe deutlich. So absurd dies auch erscheinen mag, so könnten Zyniker auch behaupten, dies wäre nur konsequent, würde man doch nur die Mittel zur Kontrolle der Massen austauschen, die Funktion dieses Tempels der Massenbeeiflussung aber beibehalten.

Wie man dies auch immer sehen möchte, hinterläßt einen die Betrachtung dieses Reliktes fragend. Dabei erscheint die profane Nutzung des Gebäudes als Lagerkomplex allerdings wie eine nachlässige Banalisierung des Bösen. Beraubt sie diesen umbauten Raum doch nicht seiner unheimlichen Ausstrahlung. Steht man im Innenraum des gigantischen Komplexes, läßt einen die Vorstellung der fanatisierten braunen Horden immer noch erschauern, umso mehr als deren menschenverachtende Ideologie sich in der Gegenwart wieder zunehmenden ausbreitet. Der ironische Umgang, der sich aus der Kombination von Text und Bild ergibt, soll provozieren. Er soll das Nachdenken darüber befördern, wie das vermeintlich Banale der alltäglichen Nutzung die historische Dimension des Schreckens überschreibt.

Copyright R-M Diedrich